Im Folgenden versuche ich noch einmal, zentrale Überlegungen von mir auszubuchstabieren. Das Ganze ist schon verhältnismäßig lang, ohne dass ich die ganzen relevanten Zitate aus der bisherigen Diskussion explizit anführe. Ich hoffe, dass die wichtigsten Punkte auch so klar werden.
Ich beginne noch einmal von vorne. Zunächst hat mich die These überrascht, ARS propagiere letztlich nichts anderes als den Respekt vor den Entscheidungen jedes Spielers. Die anderen Spieler (insbesondere natürlich der SL), dürfen die Entscheidungen eines Spielers nicht entwerten. Settembrini spricht, wenn ich ihn richtig verstehe, davon, dass Spieler frei sind, wenn ihre Entscheidungen nicht entwertet werden, und unfrei, wenn ihre Entscheidungen keine adäquate Relevanz fürs Spiel besitzen. Wenn man unter Freiheit im hier einschlägigen Sinn die Freiheit jedes Spielers versteht, seinen Charakter zu führen und damit Einfluss auf die Ereignisse zu nehmen, dann liegt Zwang genau dann vor, wenn dem Spieler die Hoheit über seinen Charakter entzogen und sein Einfluss auf die Ereignisse depotenziert wird. Zwang im gerade ausgeführten Sinn wird nun offensichtlich nicht einfach dadurch ausgeübt, dass ein SL auf die durch den Spieler bestimmten Charakterhandlungen mit einer Festlegung der Konsequenzen reagiert. Schließlich ist es sein Job, den Ball aufzunehmen und zurückzuspielen. Wenn der Respekt für die Freiheit der Spieler nicht dadurch unterlaufen wird, dass der SL überhaupt Festlegungen vornimmt, muss es die Art und Weise sein, in der der SL zu seiner Festlegung kommt, die die Freiheit der Spieler unversehrt lässt oder beschneidet.
Ich vermute, dass über das bisher Gesagte weitgehend Einigkeit besteht. Kontrovers wird das Ganze erst, wenn es darum geht festzulegen, welche Vorgehensweisen bei der Fortschreibung der Fiktion die Spielerfreiheit aushöhlen.
Settembrini hat nun offensichtlich ein Problem zu verstehen, wie Festlegungen sich an narrativen Überlegungen orientieren können, ohne dadurch einen Zwang darzustellen. Jedenfalls lese ich dieses Missverständnis aus seiner Reaktion auf meinen Hinweis heraus, dass Konzepte wie Story oder Narration fürs Verständnis von Rollenspiel produktiv sind:
Das wiederum hat mich überrascht, weil ich gleichzeitig Liebhaber all der Dinge bin, die meiner Beobachtung zufolge im Feindesland hoffähig sind. Beispielsweise gehören weder Plot noch Story noch Narration noch Kunst noch Erzählrechte zu meinen Hassbegriffen. Im Gegenteil: ich finde es nicht nur produktiv, sondern sogar unentbehrlich in diesen Begriffen übers Rollenspiel nachzudenken.
Warum? Sie sind das Gegenteil von Freiheit, wie tausendemale belegt.
Ich kann natürlich jeden verstehen, der Settembrinis Anmerkung mit einem Schulterzucken als unsinnig zurückweist. Aber um einen Schritt weiterzukommen, möchte ich versuchen, das Missverständnis genauer zu benennen. Das Gegenteil der hier relevanten Freiheit ist der vorher benannte Zwang, der den Spielern die Hoheit über ihre Charaktere nimmt und ihnen einen angemessenen Einfluss auf das Spiel raubt. Dieser Zwang liegt nicht dann vor, wenn der SL Festlegungen vornimmt, sondern äußert sich vielmehr in einer bestimmten Art und Weise, wie er Festlegungen vornimmt. Unter welchen Umständen könnte man nun Plot oder Story etc. als Gegenteil von Freiheit verstehen? Genau dann, wenn ein SL im Namen einer Story oder eines Plots das Spiel fortschreibt, ohne den Spielerentscheidungen ein Gewicht einzuräumen (und vielleicht sogar im Widerspruch zu den Spielerentscheidungen). Doch offenkundig gibt es jenseits von Railroading und Zwang andere Möglichkeiten, Festlegungen an narrativen Überlegungen zu orientieren. Settembrini übersieht das.
Eine Möglichkeit, die Entscheidungen jedes Spielers ernst zu nehmen, besteht darin, dass die Konsequenzen plausibel sind. Wenn ein Charakter etwas unternimmt und die Konsequenzen folgerichtig sind, hat die Entscheidung des Spielers Gewicht, sein Einfluss auf das Spiel ist vorhanden. Spielerentscheidungen auf plausible und folgerichtige Weise zu beantworten, ist eine wesentliche (vielleicht sogar die einzige?) Möglichkeit, diese Entscheidungen ernst zu nehmen. Dies bedeutet, dass ARS darin besteht, Spielerentscheidungen plausibel und folgerichtig zu beantworten. Plausibilität und Folgerichtigkeit sind nun aber narrative Kategorien. Denn Narrativität ist im Kern die
sinnvolle Verknüpfung von Ereignissen. Die Feststellung, dass Ereignis A passiert und dann Ereignis B, ist keine Narration. Eine narrative Dimension gewinnt das Ganze erst dadurch, dass die beiden Ereignissen in ihrer sinnhaften Verknüpfung dargestellt werden.
Die Freiheit der Spieler kann gerade dadurch unterlaufen werden, dass die Ereignisse, die sie durch ihre Charaktere festlegen, nicht in einen folgerichtigen Zusammenhang eingebaut werden. Ein SL, der eine vorher gescriptete Story durchprügelt, reagiert auf die Entscheidungen der Spieler nicht folgerichtig und plausibel. Der Zwang, den er ausübt, besteht gerade in einer Missachtung narrativer Überlegungen. Er entwertet die Spielerentscheidungen nicht durch Narrativität, sondern durch die Missachtung narrativer Überlegungen. Hört sich abgefahren an, ist aber so.
Es mag auffallen, dass mein Verständnis von Narrativität sehr basal ist. Im Grunde geht es hierbei um die sinnvolle Verknüpfung von Situationen und Ereignissen, im Unterschied zur lediglich kausalen Verknüpfung oder zum Fehlen jeglicher Verknüpfung. Narrativität beginnt nicht erst mit einer Drei-Akt-Struktur oder ähnlich höherstufigen Formen. Natürlich bauen diese Einheiten auf kleineren narrativen Einheiten auf.
Vor diesem Hintergrund verstehe ich auch die von nebelland immer wieder vorgebrachte Unterscheidung zwischen Rollenspiel, das die elektrisierende Fiktion als Ziel hat, und Rollenspiel, bei dem die Fiktion ein Nebenprodukt darstellt, für das die Spieler sich gleichwohl interessieren. Für mich bedeutet die Rede davon, dass das Rollenspiel auf die Fiktion abzielt zunächst einmal, dass sich Rollenspiel an narrativen Überlegungen orientiert, also ein Ereignis plausibel und folgerichtig aus dem anderen hervorgehen lässt. Es bedeutet ausdrücklich nicht, dass man einen Drei-Akter bastelt - schon gar nicht einen vorher bereits festgelegten. Rollenspiel, bei dem die Fiktion ein Nebenprodukt darstellt, kann ich mir nur schwer vorstellen. Aber womöglich lässt man einfach zufallsbasiert ein Ereignis auf das andere folgen und unterlegt das Ganze dann retrospektiv mit Sinn (also einer narrativen Erklärung).
Ich glaube, dass es kein gutes Rollenspiel geben kann, wenn Plausibilitätsabwägungen keine Rolle spielen. Aber Plausibilitätsabwägungen sind narrative Überlegungen. Also fluppt Rollenspiel ohne narrative Überlegungen nicht. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt hin zur Einbeziehung ästhetischer Kategorien ins Rollenspiel. Aber das auszuführen, muss ich aufschieben. Was erst einmal festzuhalten ist, ist Folgendes: ARS bezeichnet mit der Forderung, die Spielerentscheidungen nicht zu entwerten, keine besonders kontroverse Idee. Da narrative Überlegungen als Entscheidungsgrundlage eine besonders gute Möglichkeit darstellen, Spielerentscheidungen ernst zu nehmen, ist es ausgesprochen produktiv, Narrativität besser zu verstehen, um arsiges Rollenspiel besser zu verstehen - und zu betreiben.
Mich würde interessieren, welche guten Gründe ihr seht, die gegen diese Überlegungen sprechen.
Nichts mehr sagen kann ich jetzt gerade zu der Überlegung, dass es unter bestimmten Bedingungen kontraproduktiv ist, auf einen bestimmten Effekt abzuzielen. Ich glaube aber, um hier wenigstens schon einmal eine Andeutung zu machen, die ich dann vielleicht später ausführen kann, dass man zunächst einmal unterscheiden muss, zwischen narrativer Fortschreibung der Ereignisse und Abzielen auf bestimmte Effekte. Außerdem bleibt Rollenspiel dadurch unvorhersehbar, dass mehrere Leute mitgestalten. Insofern kann selbst der absichtlich erzielte Effekt für die anderen unvorhersehbar sein und ohne Einbußen genossen werden.